Das etwas andere Fazit zu unserem Aufenthalt in Motril (31.1.- 07.2.20)

Nach einer Woche Aufenthalt auf einem kostenlosen Stellplatz in Motril kommen wir entspannt und geerdet zu ersten Erkenntnissen über uns. Der Platz direkt am Meer überzeugte uns schon bei unserer Ankunft durch nackte, herumhüpfende Kinder und viele deutsche Fahrzeuge. Der Platz befand sich keine 10m vom Strand entfernt, besaß viele Grünflächen mit großen Palmen und hatte eine Trinkwasserversorgung. Perfekte Bedingungen also!

Wir parkten direkt hinter einem Erfurter und wurden freundlichst begrüßt. In den kommenden Tagen stellte sich heraus, dass die deutschen Camper auf dem Platz sich bereits alle gut kannten und viel Kontakt zueinander pflegten. Allein durch die vielen Kinder im Alter zwischen 0 und 7 Jahren gab es viele Berührungspunkte. Aber auch der „andere“ Lebensstil, die besonderen Fahrzeuge oder Kritik an Gesellschaft und dem Bildungssystem sorgten stets für reichlich Gesprächsstoff. In größeren Gruppen saßen wir auf der Wiese oder am Strand und erzählten, während die Kinder „machen konnten was sie wollten“. Fahrradfahren, Bude bauen, am Strand spielen usw. stand jeden Tag auf dem Programm.

Nach diversen Unterhaltungen und Diskussionen (Erziehung, Bildungswege, Reisen, Umweltschutz, Politik, usw.) stellten wir uns die Frage wo wir eigentlich hingehörten. Scheinbar zu „normal“ für die Alternativen – aber zu „alternativ“ für die Normalen. Zumindest kamen uns die Positionen der anderen Reisenden so extrem vor. Es scheint immer nur zwei Seiten zu geben, als ob das eigentlich so vielfältige Leben der Alternativen dann doch im Dualismus enden würde. Man ist sesshaft oder Reisender. Es gibt Fleischesser und Veganer (Vegetarier sind nur bessere Fleischesser :P), Impfgegner und –befürworter, Schulverweigerer und systemtreue Schulpflichtige, Konsumenten und Konsum-Verweigerer, Umweltschützer und Umweltverschmutzer, Schul- und Alternativmedizin… die Liste könnte man noch ewig so weiter führen. Das Problem bei den meisten extremen Positionen ist, dass sie eigentlich unheimlich komplex sind, die Menschen aber einfache Antworten gefunden haben. 

Wir haben auf unserem Weg Menschen getroffen, die nach jahrelang verlorenen Kämpfen (gegen Arbeit, Politik, Umweltverschmutzung, Atomenergie, Schule, etc.) keine andere Wahl sahen als das System zu verlassen und nun reisend ihren Weg zu beschreiten. Wir hörten hierbei sehr viel Wut und Enttäuschung auf/über das „deutsche System“ heraus. Doch ist es so einfach? Wir reisen nicht aus „Alternativlosigkeit“. Wir schließen nicht für immer mit allem ab, weil alles SO schlecht ist und dies der einzige Weg, sich dem zu entziehen. Und überhaupt, wir können recht abgeklärt und rational über derartige Themen diskutieren. Wir glauben an die Berechtigung der meisten schulmedizinischen Behandlungen. Wir denken nicht, dass unschooling jeglicher Form des Bildungssystems überlegen ist – es kommt eben auf die Art und Weise an. Wir glauben nicht an Gut und Böse oder schwarz und weiß.

Wir entgegnen den einfachen Antworten mit Fragen nach mehr Komplexität. Warum soll die Alternativmedizin wirken und gleichzeitig keine Nebenwirkungen haben? Warum kritisiert die Alternativmedizin die Schulmedizin, benutzt aber deren Methoden? Wie passen „freie und selbstbestimmte Bildung“ mit gewaltsamer Erziehung zusammen? Müssen sich die Kinder der alternativen Aussteiger nicht auch diesem Lebensstil fügen? Ist das nicht auch eine Form von Systemzwang und Uniformierung? Ist eine Sozialisation in einer so begrenzten (alternativen) Gesellschaft denn noch frei?

… ihr merkt schon, Fragen über Fragen, deren Antworten noch gefunden werden wollen. 🙂 Worin wir uns derzeit jedoch bestätigt sehen, sind folgende Erkenntnisse:

(Wer den typischen Reisebericht erwartet und jetzt schon keinen Bock mehr hat, liest einfach den nächsten Blogbeitrag :P)

Oberste Priorität hat derzeit unsere kleine Familie. Drei Individuen mit verschiedenen Bedürfnissen, welche tagtäglich abgewogen und ausgehandelt werden müssen. Dabei ist uns eine bedürfnisorientierte, gewaltfreie Erziehung von Mila besonders wichtig. Wir wollen, dass sie sich zu einem selbstbestimmten, kritischen, kreativen Menschen entwickelt. Dazu erkennen wir sie als gleichberechtigtes Familienmitglied an und eben nicht bloß als „Kind“. Wir leben zur Zeit in unserer 8 m²-WG, in der Kooperation und Kommunikation zentrale Alltagsthemen sind, um die gegenseitigen Grenzen wahrzunehmen und einhalten zu können. Täglich besprechen wir Pläne, Vorstellungen und Wünsche, loten die Wichtigkeit derer aus und entscheiden anschließend gemeinsam was wir tun. Uns ist wichtig, dass jeder gehört und berücksichtigt wird. Ich möchte an dieser Stelle auch auf das Wort „gewaltfrei erziehen“ eingehen, da wir auch hier auf der Reise Beispiele und Situationen erleben, die für uns grenzüberschreitend und für andere „normal“ zu seien scheinen. Wenn Mila sich weh tut und weint, trösten wir sie. Uns würde es nicht in den Sinn kommen ihr beim lautstarken Weinen den Mund zu zuhalten, sie anzumeckern oder sie mit Floskeln wie „hab dich nicht so, ist nicht so schlimm.“ abzuspeisen. Wenn Mila mit ihren Halbschuhen durch Pfützen hüpft, sagen wir ihr sie soll ihre Schuhe ausziehen und es barfuß machen oder ihre Gummistiefel holen. Uns würde es nicht in den Sinn kommen, sie anzuschreien, am Arm hinter uns her zu ziehen und sie für den Rest des Tages mit Verachtung zu strafen. Gewalt in der Erziehung kann sich auch verbal zeigen. Weder meinen Mann, noch Freunde oder Arbeitskollegen würde ich mit Schimpfwörtern belegen, sie in aller Öffentlichkeit lautstark als „Dreckschwein, Sau oder blöde Zicke“ betiteln. Kinder darf man aber scheinbar beschimpfen, bloßstellen oder an den Pranger stellen. Alle Beispiele haben wir so bereits miterleben müssen. Wir verstehen, dass es Situationen gibt, in denen man denkt nicht anders handeln zu können. Was wir nicht verstehen können ist, dass es Menschen gibt, die sich und dieses Verhalten nicht reflektieren bzw. es auch noch für gut heißen. Kinder können sich nur in einem gewaltfreien Raum entwickeln und entfalten. Gewalt, jeglicher Art, schränkt ein, hält klein und schafft kranke Menschen. Wir möchten so etwas nicht und wehren uns strikt dagegen, derartiges Verhalten zu tolerieren.

Über die letzten Jahre wurde auch unsere Kritik am deutsch Bildungs- und Schulsystem größer. Oftmals wird über die heutige Jugend geschimpft, doch lassen wir den Einfluss des Elternhauses mal beiseite, bleibt noch der der Bildungseinrichtungen/Gesellschaft. Warum haben wir Kinder und Jugendliche, die jegliche Freude am Lernen verloren haben? Warum wissen so viele Schulabgänger nicht wo ihre Interessen und Fähigkeiten liegen? Warum wissen Kinder und Jugendlich heute nicht wie sie am besten lernen? Warum scheinen die sozial-emotionalen Probleme immer größer zu werden?

Wir möchten Mila verschiedene Bildungswege aufzeigen und den für sie passenden herausfiltern. Wir möchten ihr zeigen, dass Bildung und Wissen mehr ist, als 6 Stunden mit einer Vergleichsgruppe in einem Raum sitzend vorgegebene Inhalte durchzukauen.

Wir möchten, dass sie die Fähigkeit besitzt sich zu allen Themen eine eigene Meinung zu bilden und zeigen ihr, wie sie dies schaffen kann. Wir ermutigen sie zu kritischem Denken und selbstständigem Handeln, auch wenn das bedeutet, dass wir ihre Entscheidungen akzeptieren müssen, sind diese anders als die, die wir erwartet haben. Sie soll keine Angst haben Fragen zu stellen. Sie soll Gegebenes nicht einfach hinnehmen, sondern alles und jeden hinterfragen können. Sie soll anderen Menschen mit Empathie und Feingefühl begegnen. Sie soll neugierig auf die Welt sein und ihr nicht mit Angst begegnen. Doch wenn wir all das von ihr verlangen, müssen wir ihr genau das vorleben.

Ich wünsche mir für meine Tochter Lernwege, die ihre Neugier und Spaß am Lernen erhalten, ihr den Leistungsdruck nehmen und ihr die Chance geben eigene Interessen zu entwickeln. Ist dieser Wunsch nicht nachvollziehbar?

Durch unsere derzeitige Art zu leben erhalten wir die Möglichkeit aus alten Gewohnheiten und Meinungen auszubrechen, uns zu hinterfragen und neu auszurichten. Wir sind sehr dankbar dafür, da wir wissen, dass wir uns in einer sehr luxuriösen Position befinden. Wir haben echte gemeinsame Familienzeit. Zeit Neues zu entdecken, Zeit Sprachen kennenzulernen, Zeit andere Menschen kennenzulernen, Zeit (kindliche) Fragen zu beantworten, Zeit uns besser kennenzulernen!

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